Gedenkfeier auf dem Ettlinger Friedhof

Zentrale Gedenkfeier auf dem Ettlinger Friedhof am gestrigen Volkstrauertag

Ansprache Evgenia Gavrilova

Sehr geehrter Oberbürgermeister Arnold,
Sehr geehrter Herr Müller,
Liebe Damen und Herren,
Ich möchte mich herzlich für die Möglichkeit bedanken, heute zu Ihnen sprechen
zu dürfen, es ist für mich eine große Ehre.
Bereits vor 25 Jahren hatte sich die Städtepartnerschaft Ettlingen-Gatschina
angebahnt, im Jahre 1992 kam es zur offiziellen Unterzeichnung der
Partnerschaftsurkunde. Seitdem haben Hunderte von Bürgern diese Freundschaft
durch ihre Kraft, Energie und Kreativität getragen. Einfache Menschen können
Schritt für Schritt mit kleinen Taten Großes bewirken – sie können etwas
bewegen, was der großen Politik zuweilen misslingt. Sie horchen auf und schauen
über den eigenen Tellerrand, sie ergreifen Initiative, übernehmen Verantwortung,
reichen die Hand zur Versöhnung. Unter anderem ist mit den Jahren auf beiden
Seiten eine junge Generation entstanden, die das jeweilige Gastland durch
Schüleraustausche und Ausbildungsprojekte kennenlernen durfte. Die jungen
Menschen haben dadurch ihre Weltsicht erweitert, haben gelernt, andere
Kulturen und Lebensweisen zu respektieren. Sie entwickelten kritisches
Denkvermögen und haben gesehen, dass es sich lohnt, zwei Mal hinzuschauen,
eher man sein Urteil fällt. Darin sehe ich die größte friedensstiftende Funktion
unserer Städtepartnerschaft.
Auch in meinem persönlichen Werdegang hat Ettlingen eine entscheidende Rolle
gespielt, wofür ich Ihrer Stadt unendlich dankbar bin. Ich möchte heute mit Ihnen
über die kollektive Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Russland sprechen –
seine Vergessenheit und Wiedergeburt anlässlich des 100. Jahrestages – und zwar
möchte ich meine persönlichen Gedanken mit Ihnen teilen.
Der Erste Weltkrieg gilt in Russland als ein vergessener Krieg. Genauso wie es in
Deutschland der Fall war, hatten ihn die darauffolgenden Katastrophen im
kollektiven Bewusstsein überschattet.

(Nach den Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust hütete man sich in Deutschland
davor, die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg öffentlich aufzugreifen. Für die
Nationalsozialisten war es ein dankbares Thema gewesen, es wurde dazu benutzt,
um die bestehende Revanchelust nach den Versailler Verträgen aufzustacheln. Denn die Mythen von Helden und glorreichen Schlachten taten dem gekränkten Stolz gut und verhalfen gleichzeitig dem niederträchtigen politischen Ziel. )

Russland, zu Beginn des Ersten Weltkrieges noch eine der fünf europäischen
Großmächte, erlebte 1917 einen grundlegenden Umbruch. Die Revolution und
der darauffolgende Bürgerkrieg forderten 8 Millionen Tote. Von 1932 bis 1933
kamen als Folge von Enteignungen, Zwangsumsiedlungen und der großen
Hungersnot von 6 bis zu 9 Millionen unter der Landbevölkerung ums Leben. Zu
Zeiten des Großen Terrors 1937-1938 wurden über 1,7 Millionen Menschen
verhaftet, 725 Tausend davon erschossen. Diese Berechnungen stellte die NGO
Memorial an, die sich den Erhalt des Gedenkens an die Opfer des politischen
Terrors in der UdSSR zur Aufgabe gemacht hat. Sie schätzt, dass von 1921 bis
1985 insgesamt bis zu 5,5 Millionen Menschen von den sowjetischen
Sicherheitsstrukturen aus politischen Gründen zum Tod, zu Lagerhaft,
Gefängnisstrafen und Exil verurteilt worden sind. Aber kein anderes Ereignis
wirkte sich für Russland folgenschwerer und prägender aus, als der Zweite
Weltkrieg, der an Opferzahlen, Leiden und Verwüstung alles Bisherige bei Weitem
übertraf.
Kein Wunder, dass der Erste Weltkrieg für lange Zeit aus dem russischen
kollektiven Bewusstsein verdrängt wurde. In der offiziellen Historiographie wurde
seine Wahrnehmung je nach politischer Wetterlage vielfach umgestaltet.
Imperialistisch und ausbeuterisch galt er unter dem bolschewistischen Regime.
Siegreich und heldenhaft wurde er unter Stalin insbesondere während des
Zweiten Weltkrieges. Und als der Kalte Krieg heraufzog, kam es der politischen
Elite gelegen, das Zarenimperium zu einem selbstlosen Verteidiger der slawischen
Völker zu stilisieren und seine Friedfertigkeit zu unterstreichen.
Im kulturellen Gedächtnis einer Nation werden schicksalhafte Ereignisse in
Formen von Texten, Riten und Denkmälern festgehalten. Sie lassen aus entfernter
Vergangenheit Mythen entstehen, auf denen Völker das Verständnis ihrer
Eigenart aufbauen.
Aber diese Selbstbilder sind wandelbar – in jeder Epoche kann der Bezugsrahmen
je nach Präferenzen verschoben werden. Der Teil der Vergangenheit, den die
Gesellschaft von sich offenbart, bestimmt, wie sie in ihren eigenen und den Augen
anderer erscheinen möchte. Dasselbe betrifft auch die Funktion der Erinnerung. Ein Zitat des Kulturforschers Jan Assmann besagt: „Die einen erinnern sich an die Vergangenheit aus Angst,
von ihrem Vorbild abzuweichen, die anderen aus Angst, sie wiederholen zu
müssen“.
Der Einsatz von nationalen Mythen kann insbesondere bei einem so emotionalen,
empfindsamen Thema wie Krieg große Wirkung erzeugen und zu politischen
Zwecken instrumentalisiert werden.
In Russland können wir im Jahr 2014, zum 100. Jahrestag des Beginns des Ersten
Weltkrieges, eine staatlich durchgeführte Renaissance der Erinnerung
beobachten. Auf Präsidentenerlass wurde der Verein „Russische
Militärhistorische Gesellschaft“ ins Leben gerufen, der als Träger der offiziellen
Gedenkveranstaltungen auftritt. Er initiierte das Projekt zur Erschaffung eines
zentralen Denkmals, den es bisher nicht gegeben hatte. Die Einweihung des
Denkmals für die Helden des Ersten Weltkrieges, so wurde er genannt, fand am 1.
August unter der Teilnahme des Präsidenten auf dem Poklonnaja-Berg statt,
ursprünglich dem nationalen Gedenkort für den 2. Weltkrieg. Von nun an soll der
Tag, an dem das Russische Reich die Kriegserklärung vom Deutschen Reich erhielt,
zu einem nationalen Gedenktag werden. Seitdem erfolgt landesweit eine dichte
Anreihung von Veranstaltungen: Konferenzen, Ausstellungseröffnungen,
Einweihungen von Denkmälern und militärhistorische Festivals.
Die staatlichen Initiativen wollen sich nun verstärkt der Erneuerung von
erhaltenen Monumenten und der Grabsuche annehmen. In Russland sind es nicht
mehr als 5% der Begräbnisstätten aus dem Ersten Weltkrieg, die erhalten
geblieben sind. Versuche, die Gräber vor Verfall zu bewahren, gingen bisher
meistens auf private Initiativen, Hobbyhistoriker und patriotisch gesinnte
Bürgerbewegungen zurück. Zum Beispiel das Schicksal des ehemaligen
Städtischen Bürgerfriedhofs in Moskau im heutigen Stadtteil Sokol scheint den
bewegten Verlauf der russischen Geschichte geradezu zu verkörpern: 1915
eingeweiht, wurde der 22 Hektar große Friedhof in den Kriegsjahren zur letzten
Ruhestätte für rund 18 000 Gefallene. Schon bald nach der Revolution fanden
dort Erschießungen von Gegnern des neuen Regimes statt. Unter Stalin wurde der
Friedhof geschlossen und 1932 eingeebnet, um als Baugebiet für Wohnhäuser
verwendet zu werden. Seit 2005 existiert auf einem Teil der ehemaligen Fläche
ein Park mit Gedenkstätten. 

Wenn man einen Blick auf die offizielle Rhetorik bei den Gedenkveranstaltungen
wirft, so dominieren dort die Schlagwörter: Heldentum, Opferbereitschaft,
Patriotismus, militärischer Ruhm. Grundthesen sind dabei: Russland spielte die
entscheidende Rolle im Kriegsverlauf, die jedoch nicht anerkannt wurde. Der Zar
bemühte sich bis zuletzt um eine friedliche Lösung, aber niemand hörte auf ihn.
Und wären es nicht gewisse Verräter, hätte das Land einen Sieg davongetragen.
So werden das Gefühl von gekränktem Stolz und Geltungssucht eingeflößt. Mit
deutlichen Anknüpfungen an das schmerzreichste Ereignis der russischen
Geschichte – den Zweiten Weltkrieg, wird sogleich ein besonders wunder Punkt
bei der Zuhörerschaft getroffen.
Es erscheint wie ein Dejavue: In der Situation um den Ukrainekonflikt, in dem
wieder von slawischer Brüderschaft und der westlichen Übermacht die Rede ist,
erklingt ein hundert Jahre alter Nachhall. Die russische Schriftstellerin Ludmilla
Ulitzkaja schreibt dazu: „Beim Vergleich dieser beiden historischen Momente wird
ihre gefährliche Ähnlichkeit sofort augenfällig: Derselbe Anstieg von
Nationalismus in unterschiedlichen Ländern, dieselbe Ausbeutung des
Patriotismus-Begriffs, das Nähren vom Gefühl des nationalen Auserwähltseins
und Überlegenheit“. Genauso wie vor 100 Jahren helfen Patriotismus und
Feindbilder wieder dabei, die wirtschaftlichen und sozialen Missstände im
öffentlichen Bewusstsein in den Hintergrund zu rücken. Vor 100 Jahren erhoffte
sich das Zarenreich Revitalisierung durch den patriotischen Aufschwung des
Krieges. Und die Propaganda schien zunächst erfolgreich: Landesweit fanden
Demonstrationen zur Unterstützung Serbiens statt, der Kampf um die „Reinheit
der Sprache“ führte zur Umbenennung St. Petersburgs in Petrograd und zur
Ausmerzung von deutschen Straßennamen und Aushängen. Deutschen wurden
ihre Anteile an russischen Unternehmen entzogen, um die heimische Wirtschaft
von der deutschen „Übermacht“ zu befreien. Die Menge erstürmte die deutsche
Botschaft in Petrograd und verwüstete sie.
Aber statt des erhofften Aufschwungs kam es zur Niederlage des Zarenreiches.
Die Wirtschaft war am Ende von den hohen Kriegskosten ausgezehrt, die
Menschen wurden sich immer mehr der Sinnlosigkeit des Krieges bewusst und
wünschten sich nichts anderes, als dass er ein Ende nimmt. Letztlich kam es zu
einer Katastrophe, weil die herrschenden Eliten es verfehlt hatten, den wirklichen
Wunsch des Volkes wahrzunehmen: Ein Leben in Frieden, Freiheit und
Wohlstand.

An dem derzeitigen Erinnerungsprozess beteiligen sich aber auch andere Akteure.
In der Nähe von St. Petersburg gibt es eine Siedlung namens Levaschovo. Parallel
zum offiziellen Programm fand auf dem dortigen Friedhof am 10. August die
Einweihung eines Gedenkkreuzes für die Teilnehmer des Ersten Weltkrieges statt,
die im Zuge von stalinistischen Repressionen hingerichtet wurden. Die Mittel
dafür wurden ausschließlich von NGOs gesammelt, auch erhielt diese
Veranstaltung so gut wie keine mediale Aufmerksamkeit. Rund 40 Tausend
Hingerichtete sollen auf Levaschovo von der NKVD verscharrt worden sein,
darunter mehrere Tausend ehemaliger Kriegsteilnehmer. Noch vor 1989, als das
Massengrab offiziell zum Memorial erklärt wurde, entwickelte es sich zu einem
„Volksmemorial“: Die Menschen fingen an, Fotografien mit Namensschildern an
den Bäumen zu befestigen.
Ich wünsche es mir sehr für die Zukunft meines Landes, dass die namenlosen
Helden einst gewöhnliche Menschen sein dürfen. Ich wünsche mir, dass man
ihnen ihr Recht auf Leben zugesteht, das sie nicht leben durften. Dass man ihnen
Recht auf Angst zugesteht, die sie vor dem Sterben hatten und die Helden ja nicht
haben dürfen. Sie wollten vielleicht Helden werden, indem sie ihr Land mit ihren
Talenten und Können bereichern, aber der Krieg ließ ihnen keine Chance dazu. Ich
wünsche mir, dass diese Menschen ihre Gesichter zurückerhalten, so wie an den
Bäumen auf dem Friedhof von Levaschovo. Ich wünsche mir, dass die Opfer von
Krieg und Terror auch in Russland Stolpersteine haben, damit wir etwas mehr von
der Geschichte jedes einzelnen erfahren können.
Deutschland weiß so gut wie kein anderes Land, dass Einsicht und
Schuldbekennen für Fehler in der Vergangenheit entscheidend sind, um
weitergehen zu können. Russland wurde Leid zugefügt, aber es bleiben noch viele
Schattenseiten in seiner Geschichte, über die der Staat mit den Bürgern offen und
ehrlich sprechen muss. Um den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und
um die junge Generation zu einer verantwortungsbewussten Zivilgesellschaft
heranwachsen zu lassen. Nur indem wir unsere Vergangenheit erkennen, finden
wir den Weg in die Zukunft.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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